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über die Arbeit mit mehrsprachiger Erzählkunst

Bericht von Volkan Gül­tekin, Mersin, Türkei

Für mich sind Geschichten…

…berühren, träu­men, in mein­er Phan­tasie reisen und Gemein­samkeit. Das Leben genießen. In die Ver­gan­gen­heit reisen. Lachen. Weinen… 

Ich werde ver­suchen, die Erfahrung, gemein­sam in Deutsch­land Geschicht­en erzählt zu haben, anhand der oben aufge­führten Gefühlen darzustellen. 

Für mich als ein­er, der erst vor kurzem begonnen hat, Geschicht­en zu erzählen, war die Erfahrung, an den Berlin­er Schulen Geschicht­en zu erzählen, einzi­gar­tig und hat mich unglaublich glück­lich gemacht. Die Gefüh­le, die bei mir mit Geschicht­en ein­herge­hen, habe ich in Berlin durch­lebt. Das hat mir gezeigt, wie wichtig unsere Tätigkeit ist. Unten habe ich ver­sucht, meine Beobach­tun­gen zu unser­er Arbeit zusammenzufassen. 

Meine wichti­gen Erfahrun­gen aus der Arbeit sind: 

  1. Eine Schule und ein Bil­dungsmod­ell ken­nen­zuler­nen, die anders als die mir bekan­nt sind. 

  2. Die Reak­tio­nen der Kinder auf Geschicht­en und auf das Geschicht­en­erzählen zu erleben.

  3. Die Rück­sicht­nahme und die Sen­si­bil­ität bei der Arbeit mit Kindern in Grup­pen zu erleben.

  4. Ich habe gese­hen, wie die Kinder, die die Geschichte in ihrer Mut­ter­sprache hörten, aufgeregt waren und es kaum erwarten kon­nten, sich zu beteili­gen. Das hat gezeigt, wie maßge­blich die Mut­ter­sprache für die Teil­nahme sein kann. 

  5. Kinder mit unter­schiedlichen Mut­ter­sprachen haben die Geschichte auf sich wirken lassen und die ganze Geschichte verstanden. 

  6. Ich habe erlebt, wie die Kinder, die unter­schiedliche Sprachen sprechen, in einen Dia­log mit den Kindern, deren Mut­ter­sprachen Deutsch und Ara­bisch sind, getreten sind und wie eine kul­turelle Inter­ak­tion stattge­fun­den hat.

  7. Ich habe erlebt, dass die Kinder eine Neugi­er auf andere Sprachen hatten.

  8. Die Kinder haben aus dem Erzählten, aber auch aus der Köper­sprache her­aus ein Ver­ständ­nis für die Geschichte entwick­elt und sind an der Geschichte drangeblieben.

  9. Die Freude der Kinder aus der Türkei, als sie hörten, dass ich aus der Türkei komme und die Trau­rigkeit der Kinder, deren Mut­ter­sprache Ara­bisch ist, als sie hörten, dass Ahmad nicht kom­men kon­nte, war eindrücklich. 

  10. Eines der Kinder aus der Türkei erzählte, dass es zum ersten Mal eine Ver­anstal­tung auf Türkisch an sein­er Schule erlebe und wie glück­lich es darüber sei. 

  11. Ich habe per­sön­lich erlebt, wie Geschicht­en­erzählen in unter­schiedlichen Sprachen eine kul­turelle Bindung schaf­fen kann.

  12. Ich kon­nte die Bemühun­gen der Kinder sehen, die in unter­schiedlichen Sprachen erzählte Geschichte, aus der Kör­per­sprache und von dem Gehörten durchge­hend mitzuverfolgen.

  13. Nach jedem Erzählen habe ich gefühlt, wie ich die Kinder berührt/erreicht habe.

  14. Ich hat­te das Gefühl, mich in die Geschicht­en der Kinder ein­fühlen zu können/ein Teil von ihnen zu werden. 

  15. Ich glaube, meine wichtig­ste Beobach­tung ist, gemein­sam inmit­ten ein­er Geschichte zu sein und das Zus­tandekom­men von etwas gemein­sam zu erleben, über­rascht zu sein, zu lachen, zu denken, zu sehen und gemein­sam auf der Suche zu sein.

 

Ich habe, Dank Brit­ta, vom Beginn der Aktiv­ität an viel Erfahrung gesam­melt. Die Aktiv­ität war für mich qua­si eine Aus­bil­dung. Was ich meine ist, dass ich die Erfahrung mitgenom­men haben, wie die Phasen des Geschicht­en­erzäh­lens – also die Vor­bere­itung, die Auf­führung und die Auswer­tung – gestal­tet werden. 

Die Magie des mehrsprachigen Erzählens

Brit­ta Wilmsmeier 10/2021 (Erzäh­ler ohne Grenzen) 

Wie schön es wäre, wenn wir uns mit allen Men­schen dieser Welt ver­ständi­gen könnten.

Wenn mehrsprachig erzählt wird, fühlt es sich für einen Augen­blick so an — für die Erzäh­len­den und das Pub­likum. Aber was ist mehrsprachiges Erzählen eigentlich? Eine Geschichte wird von mehreren Erzähler:innen in ver­schiede­nen Sprachen vor­angetrieben, ohne dass sie sich gegen­seit­ig über­set­zen. Der Erzäh­lende greift einen wichtiger Aspekt von dem Vorgän­gen auf, um dann in sein­er Mut­ter­sprache weit­erzuerzählen. Die Geschichte wird vor­ab unterteilt, gemein­same Kör­per­sprache wird verabre­det oder Über­lap­pun­gen einge­baut — etwas Voll­ständi­ges entste­ht. Jede Per­son, die auch nur eine der Sprachen spricht, kann die ganze Geschichte verstehen.

Wenn also eine Geschichte mehrsprachig erzählt wird, wird es zu etwas Größerem. Man spricht die gle­iche Sprache, auch wenn man de fac­to den Anderen gar nicht ver­ste­ht. Es ist die Sprache der Geschichte. Das Ver­ste­hen find­et auf einen anderen Ebene statt, das jen­seits des intellek­tuellen Begreifens ist. Es ist fein­füh­liger, es ist per­sön­lich­er, es ist unab­hängig von kul­tureller Prä­gung. Diese Erfahrung wird auch dem Pub­likum zuteil — das Erzählen wird als beson­ders lebendig emp­fun­den, da auch die Zuhören­den beson­ders aufmerk­sam der Geschichte fol­gen. Es führt zu ein­er Verbindung zwis­chen den Erzäh­len­den und den Zuhören­den auf ein­er sozialen Ebene. Die Zuhören­den wer­den mitgenom­men und nicht aus­geschlossen, auch wenn sie nur eine Sprache ver­ste­hen. Das Erzählen, das somit auch von großer Inte­gra­tionskraft für alle Beteiligten ist, ent­pup­pt sich als ein Beispiel für eine fried­volle und empathis­che Ver­ständi­gung auf der Ebene des Men­sch­seins. Das ist von großer Magie!

Achmad Haj­ta­ha, ein­er der Erzäh­ler (Geflüchteter aus Syrien, jet­zt sesshaft in Türkei) for­mulierte es so:
„Ich habe ent­deckt, dass das Ver­ste­hen eines Men­schen nicht nur durch die Sprache funk­tion­iert, son­dern auch durch das Ver­ste­hen der Seele eines Men­schen … erst kommt die Seele dann die Sprache.“

Vor gut einem Jahr, 2020, begann das interkul­turelle Pro­jekt „hep beraber – alle zusam­men – all togeth­er“ — Deutsch-Türkische Ini­tia­tive zur Zusam­me­nar­beit in der Flüchtling­shil­fe“ von DINX (Insti­tut für Diver­sion, Inno­va­tion und nach­haltiger Prax­is­trans­fer). Die Pro­jek­tlei­t­erin Birte Goos­es lud die Erzäh­lerin Suse Weisse (Pots­dam, Deutsch­land), Volkan Gül­tekin, Beril Sön­mez, Ekin Su Bir­in­ci (Türkei), Achmad Haj­ta­ha (Syrien, jet­zt Türkei) von der Organ­i­sa­tion Anadolu Kültür und mich, Brit­ta Wilmsmeier (Berlin, Deutsch­land) ein, uns zu ver­net­zen für einen Prax­is­trans­fer im Bere­ich Erzählen.

Auf­grund von Coro­na kon­nten wir uns das ganze erste Jahr nicht per­sön­lich ken­nen­ler­nen. Wir haben uns per Zoom aus­ge­tauscht, Zoom-Live Ver­anstal­tun­gen organ­isiert und Fort­bil­dun­gen entwick­elt. Darauf basierend kon­nten wir, als wir uns endlich für einen zweitägi­gen Aus­tausch im Sep­tem­ber 2021 in Istan­bul trafen, pro­duk­tiv weit­er­ar­beit­en. Auch dort entwick­el­ten wir ein türkisches Märchen dreis­prachig: ara­bisch, türkisch und deutsch als Beispiel für Good Practice.

Auf­grund der Kriege und Kli­makatas­tro­phen weltweit wer­den wir nicht umhin kom­men, men­schlich näher zu rück­en und uns ken­nen­zuler­nen, um Frieden zu bewahren. Solche mehrsprachi­gen Pro­jek­te und Auftritte geben Men­schen die Möglichkeit­en ver­schiedene Iden­titäten zu inte­gri­eren und andere ken­nen­zuler­nen. Das Erzählen von Geschicht­en kann eine Brücke sein auf der man sich tre­f­fen kann. Mehrsprachiges Erzählen trägt dazu bei, dass wir aufmerk­samer wer­den und inspiri­ert, uns von Men­sch zu Men­sch begegnen.