Bosnien und Herzegowina

Ein Märchen erzählen, ihm zuzuhören…
Erzählen und Zuhören… Wie wenig populär ist das in diesen Tagen!

“Bajati” lautet ein altes slaw­is­ches Wort, das nur unge­nau mit dem deutschen “erzählen” ver­gle­ich­bar ist. “Bajati” steckt auch in “Baj­ka”, dem kroat­is­chen Wort für “Märchen”. Es heißt: eine andere Welt zaubern. “Bajati” heißt erzählen von etwas, das sehr weit fort ist … und doch so sehr nah. “Woher kommst Du und wohin gehst Du?” fragt die alte Frau. Ja, wirk­lich, woher kom­men wir und wohin gehen wir? Kurze, ein­fache Worte sind dies und ein großes Geheim­nis steckt ver­bor­gen darin, hin­ter diesen Worten. Den Worten….
Es ist das Jahr 1991. Es ist Krieg. In einem Schutzraum alte Leute, Frauen, Kinder, von draußen drin­gen Lärm und Zer­störung here­in. Eine Granate trifft das Haus, und der Luft­druck wirft uns an die Wand. Staub, Elend, Ohn­macht, Angst. Kinder fan­gen an zu schreien. Müt­ter ver­suchen hoff­nungs­los, sie zu beruhi­gen. Alte Leute mit aufgeris­se­nen Augen, reg­los.
Ich nahm die Kinder und einige Müt­ter in einen kleinen Raum. Wir set­zten uns auf den Boden und ich begann, eine Geschichte zu erzählen, ein Märchen… … Hin­ter neun mal neun Bergen, hin­ter neun mal neun Meeren … leise, langsam, kamen die Worte, umkreis­ten uns, segel­ten durch den kleinen Raum. Die Augen der Großen und Kleinen weit­eten sich, ihre Gesichter began­nen zu leucht­en und wie durch Zauberei sind wir alle gemein­sam hier und gle­ichzeit­ig irgend­wo weit, weit weg von hier. Der Lärm des Krieges ist nicht mehr anwe­send und nicht mehr wichtig. In uns und um uns herum ist Frieden und eine zauberische Stille herrscht zwis­chen den Bildern, wir fall­en in sie hinein…
Wir Erwach­se­nen fragten uns später, ja, wo in Wahrheit waren wir eigentlich gewe­sen? Und wohin waren Angst und Krieg ver­schwun­den? Und warum, sog­ar später noch, waren wir nicht mehr so voller Furcht? Erstaunlich … Ich frage mich … was war denn eigentlich real­er … dieser Krieg, der später ein­mal aufhörte, oder dieses Märchen, das immer noch in uns lebt?
Heute bin ich Beruf­serzäh­lerin. Immer auf Reisen. Und über­all das Licht auf den Gesichtern, das Leucht­en in den Augen und ein Friede, ein über­wälti­gend erfüll­ter Friede, ein Friede, der bleibt…